Baunetz-Campus features “Counterintuitive Typologies” 
Interview mit Andreas Lechner und Feature unter
https://www.baunetz-campus.de/focus/atypische-typologien-8039121


[Ungek. Interview-Fassung]
Was bedeutet für dich der Begriff Typologie (in der Architektur)?

Wenn wir uns auf die gebaute Welt – ob Stadt oder Verstädterungslandschaft – einlassen, beobachten wir auf allen Maßstabsebenen Wiederholungen und Ähnlichkeiten: bauliche Elemente, Formen, Nutzungen, räumliche Relationen und Erschließungssysteme – alles wiederholt sich und das zumeist sehr verlässlich. Aus diesen Beobachtungen lassen sich für die eigene Entwurfsarbeit Prämissen ableiten, die sich mehr oder auch weniger rational, spekulativ oder spektakulär auf die vorgefundene Welt beziehen. Typologien in der Architektur sind eine Art grundlegender zeichnerischer Studienmodus der über Plandarstellungen Beziehungen oder Verweise zu vorhandenen räumlichen Relationen und Nutzungszusammenhängen herstellen hilft. In meinem Buch (Abb. 1) gehe ich dem ausführlich nach und betone die zentrale Rolle kodifizierter Darstellungen. Grundriss und Schnitt erlauben uns den Zugriff auf ein bauliches und gebautes Gedächtnis komponierter Form, die sie zugleich als Innen- und Außenräume zur Darstellung bringen. Kein Foto, keine Perspektive kann diese für das Entwerfen so zentrale Gleichzeitigkeit von Innen und Außen vermitteln. Als Entwurfsrecherche und Inspiration müssen typologische Studien daher ebenso wenig streng wissenschaftlichen Kriterien folgen noch weisen sie einen Mangel an Kreativität aus oder Verführen zum platten Kopieren. Natürlich kann das alles der Fall sein, aber letztlich sollte das Studium von Typologien helfen die Qualität eines architektonischen Entwurfs zu erhöhen, weil dieser seine Kraft immer aus der Spannung von Neuem und Vertrautem zieht. Das Buch führt das umfangreich aus und entwickelte sich aus meinen 2012 begonnen Gebäudelehre-Vorlesungen und meiner Habilitation (Abb. 2).       


1 | Das Buch-Cover verweist auf die Entwurfs- und Typusdiskussionen im Buch: Auf den grundsätzlich bastelnden Charakter aller Entwurfshandlungen an und als Zukunftsszenarien verweist das Film-Still aus Georges Méliès‘ ‚Die Reise zum Mond‘ von 1902 mit der ersten Abbildung. Es zeigt die Landung der Raumkapsel im rechten Auge des Mannes im Mond und damit zugleich einen anthropomorphen Betrachter der Erde im Zeitalter des Anthropozäns. Auf die architekturtypologischen Diskussionen weist als zweites Bild die “karibische Hütte” Gottfried Sempers hin, die seine Theorie zum anthropologischen Ursprung der Architektur illustrierte: Vier Elemente der Baukunst, die er als Ur-Typen – Dach, Wand, Boden und Feuerstelle – in seiner Stoffwechseltheorie in ein naturwissenschaftliches Modell der Hybridisierung der Kunsthandwerke überträgt. Die Lehre von den Gebäudetypen als Bauaufgabe, die sich aus dem sozialen Status und der politischen Rolle des Bauherren begründet, findet sich – vom Kirchenbau und Palast bis hin zu Gefängnis und Tierstall – in der Inhaltsangabe von Nikolaus Goldmann und Leonhard Christoph Sturms ‚Vollständige Anweisung zu der Civil-Baukunst‘ (1699) als dritte Abbildung am Cover. Le Corbusiers perspektivische  Darstellung des Prototyps der Maison Dom-Ino (1914) präsentiert den Archetyp der meisten Bauten im 20. Jahrhundert als vierte Abbilding. Die allegorische Darstellung der Urhütte in Marc-Antoine Laugiers ‚Essai sur l'Architecture‘ von 1755 stellt den Launen des Rokokos einen sowohl klassizistischen als auch der Natur verpflichteten Archetypen in der fünften Abbildung entgegen und schließt damit den Kreis zum hybriden Amalgam aus Natur und Kultur in der ersten Abbildung.

 
2 | Ausgewählte Buchseiten

     
Inwiefern lässt sich eine Typologie über eine (Um)Nutzung definieren?

Nutzungen sind einfache gemeinsame Nenner, mit denen wir die Population der Bauwerke intuitiv und sprachlich nach Konventionen sortieren – Einfamilienhaus, Gotteshaus, Rathaus, Supermarkt, Markthalle usw. Umnutzungen lassen uns dabei aber kurz innehalten, weil sie diese Konventionen scheinbar brechen. Tatsächlich machen uns Umnutzungen aber nicht nur auf den Spielraum zwischen Formen und Funktionen aufmerksam. Sie sind vielmehr das Wesen der Architektur der Stadt – Aldo Rossi argumentierte seine Kritik am naiven Funktionalismus ja u.a. mit der Beobachtung, dass viele historische Bauten umgenutzt wurden – Krankenhäuser zu Universitäten, Paläste zu Museen, Industrieanlagen zu Freizeitparks usw. Um- und Weiternutzungen machen das hybride Wesen der Stadt aus und sind zentrale Domäne der Architektur, die hinkünftig weit mehr als nur Altstadtschutz und Denkmalpflege umfassen muss (Abb. 3). Umnutzungen bezeugen das relative Verhältnis von Formen und Funktionen, in dem sich Entwurfsarbeit mit fortlaufender Referenzierung und Transformierung von architekturbezogenem Wissen bewegt und dabei disziplinäre Grenzen und Zuständigkeiten, Kompetenzen und intellektuelles Eigentum auch fortlaufend verschwimmen lässt. (Abb. 4) In meinem Buch verdeutliche ich diese Hybridität als grundsätzliche Charakteristik von Entwurfshandlungen. Als Produkt aus und für die Entwurfslehre liefert das Buch daher eine bewusste Reibefläche, die der heute als Medieninhalte global fluktuierenden Architekturproduktion einen auf Zeichnung und Text reduzierten Dialog aus Formen und Funktionen anbietet, der fortlaufend für erneut ortsgebundene Einsätze weiterverarbeitet oder wiederangeeignet werden kann (Abb. 5).
 
3 | Grundriss und Schnitt der Projekte ‚Theater‘, ‚Museum‘, ‚Bibliothek‘ und ‚Staat‘
3 | Grundriss und Schnitt der Projekte ‚Theater‘, ‚Museum‘, ‚Bibliothek‘ und ‚Staat‘

 
4 | Grundriss und Schnitt der Projekte ‚Büro‘, ‚Freizeit‘, ‚Religion‘ und ‚Einzelhandel‘


5 | Grundriss und Schnitt der Projekte ‚Fabrik‘, ‚Bildung‘, ‚Kontrolle‘ und ‚Krankenhaus‘

Was zeichnet eine kontraintuitive Typologie aus?

Dass sie eine Art von Umnutzung im engeren oder weiteren Sinn ist. Mit diesem angedeuteten  Widerspruch aus konventionellen oder vertrauten Formen und Funktionen - Typologien - , die aber eben auch unerwartet - kontraintuitiv - ausfallen können, weise ich natürlich auf die architektonische Gestaltungsexpertise hin. Architektonisches Entwerfen ist sowohl konservativ, weil es immer wieder auf Lösungen zurückgreift, die sich in langen Prozessen stillschweigenden Austestens bewährt haben, als auch kreativ, weil es diese Lösungen an den ständigen Wandel von Bedingungen anpassen muss. Diese Spannung aus Allgemeinem und Besonderem nimmt aber drastisch ab, wenn wir uns aus der Zone kulturell und historisch bedeutsamerer baulicher Zusammenhänge hinaus in die Stadt der Gegenwart bewegen. Hier lehnen wir den zersiedelten Durchschnitt entweder ab oder begeistern uns – 50 Jahre nach der Pop Art – noch immer für ihren Realismus aus Trash und Kitsch. Im territorialen Maßstab der zersiedelten Landschaft begegnen uns nur noch Fragmente und Stereotypen – private Eigenheimutopien, decorated sheds mit Parkplatzwüste, dann ein Kloster, dann eine Erholungslandschaft mit Tourismusbauten und dann wieder Industrieanlagen, dann Landwirtschaften und dazwischen noch Autobahnen und Flüsse, die mehr oder weniger malerisch die Geographie zerschneiden. Dass hier drei Viertel Europas leben und wir auf diesen räumlichen Fragmenten aus baulichen Ressourcen, Infrastrukturen und Resträumen aufbauen müssen, ist ja hinreichend belegt. Was daran aber auch architektonisch interessant und städtebaulich sinnvoll sein könnte, weniger. Hier setzten die „kontraintuitiven Typologien“ an und fragen wie öffentlichere, schönere und gesellschaftlich wertvollere Orte durch ein Um- und Weiterbauten der Verstädterungslandschaften entstehen könnten (Abb. 6).


6 | Ausgewählte Seiten aus „Counterintuitive Typologies“ – Beilage in „Entwurf einer architektonischen Gebäudelehre“ mit zwölf an der TU Graz zwischen 2015 und 2021 entstandenen und von Andreas Lechner betreuten Masterarbeiten.


Auf welchem Weg leitest du die Annäherung zu einer kontraintuitiven Typologie an? 

Es sind zwei Wege, die ich in der Lehre verfolge. Der eine ist relativ direkt und widmet sich dem Umbau von konkreten Bauwerken. Das zieht sich als thematischer Faden durch meine Entwurfsstudios der letzten Jahre – etwa 2019 mit den wunderbaren mallorquinischen Kollegen Jaume Mayol und Irène Pérez Piferrer von TEd'A arquitectes beim Umbau eines Kasernengeländes in der Peripherie Palmas (Abb. 7) – aber auch durch Masterarbeiten. In der 2021 erschienenen englischen Erstausgabe und der überarbeiteten deutschen Zweitauflage meines Buchs ist dazu auch ein Heft mit Auszügen von zwölf von mir betreuten Abschlussarbeiten beigelegt (Abb. 6). Wie die 144 Projekte im Buch, zeigen auch diese Abschlussarbeiten als reduzierte Linienzeichnungen – jeweils auf eine Doppelseite mit Kurztext komprimiert – wie Räume einer organisierten Öffentlichkeit kritisch weitergedacht werden können. Sie bauen an vorhandenen Bauten und Infrastrukturen, an Produkten der Immobilienwirtschaft und an den Verstädterungslandschaften zukunftsfähiger, gesellschaftlich und ökologisch verantwortungsvoller und ästhetisch anspruchsvoller weiter: Indem sie Formen und Funktionen sowohl technischer als auch sozialer und kultureller Natur verknüpfen, verbinden, verdichten und vervielfältigen, betonen sie den zentralen Entwurfsaspekt der Komposition als wesentliche Form architektonischer Verknüpfung. Ob dabei Techniken der Collage oder des Samplings, des Stapelns oder des Überlagerns zum Einsatz kommen – die Komposition bildet als ästhetische Festlegung der architektonischen Form einen Entwurfsaspekt, der – vor (oder nach) Fragen nach Funktion und Atmosphäre – Zeiten und Nutzungszyklen und damit Produkt- und Lebenszyklen überdauern kann. Man könnte jetzt polemisch meinen, dass jegliches architektonisch-gestalterisches Engagement im Laissez-faire der vornehmlich zweckrationalen, monofunktionalen und möglichst billigen Verstädterungslandschaft schon ‘kontraintuitiv’ wäre, was aber natürlich nicht stimmt (Abb. 8).


7 | Lageplan des umgebauten Kasernengeländes „Son Busquets“ Palma / Mallorca, das im Rahmen des Masterstudios „Palimpsest“ mit den Gastprofessoren Jaume Mayol und Irène Pérez Piferrer von TEd'A arquitectes bearbeitet wurde, TU Graz 2019.


8 | Auszug aus Alexander Gebetsroithers Masterarbeit ‚I-710/I-105‘, TU Graz 2016

Gibt es ein Projekt, das sich als kontraintuitive Typologie auszeichnet?  

Das betrifft den zweiten Weg in Lehre und Forschung. Typologien ordnen und sortieren ihre Beobachtungen über Informationsreduktion, was Polemiken und Stereotypisierung Vorschub leistet. Der zweite Weg nimmt diese Wahrnehmung ernst und macht die Welt wieder komplexer und detailreicher, weil er sich die Mühe macht die Verstädterungslandschaft vorurteilsfreier, d.h. einfach genauer aufzuzeichnen. Bernhard Ogrisek hat genau das mit seiner beeindruckenden Masterarbeit mit dem Titel „Das Infra-Gewöhnliche. Alltagsfragmente des Grazer Umlands“ unlängst getan. Anhand dieser Siedlungslandschaft im nördlichen Grazer Umland, die vermeintlich kaum Identität, Ausdruck oder Relevanz besitzt, die ihre nähere Erforschung rechtfertigen würde, entwickelt er eine Philosophie der Alltagsbeobachtung, d.h. der konzentrierten Wahrnehmung und des Ernstnehmens der baulichen Realität bis ins kleinste Detail. Innerhalb der vorstädtischen Agglomeration bilden Infrastrukturen als endotische Erinnerungsfragmente den Unterbau, eine Art ortsimmanentes,  tragendes Skelett, auf dem er dann die unbeachteten, übersehenen baulichen Formen durch den abstrakten, künstlerisch-wissenschaftlichen Blick der Zeichnung montiert, analysiert und befragt bzw. typologisch – als Suche nach einem “Ursprung”, nach einer Gegenwart, nach einer Zukunft und nach den Möglichkeiten ihrer Transformation – umkreist (Abb. 9-17).

9 – 17| Auszüge aus Bernhard Ogriseks Masterarbeit ‚Das Infra-Gewöhnliche. Alltagsfragmente des Grazer Umlands‘, TU Graz 2022. 

‘Counterintuitive Typologies’ als Lehr-, Forschungs- und Publikationsprojekt - der Spagat ist sehr groß. Wie lassen sich diese drei Komponenten verweben und wie beeinflussen sie sich gegenseitig?

Nachdem ich auch in meiner Büropraxis Renovierungs-, Um- und Anbauprojekte realisieren konnte ist die konkrete bauliche Umsetzung natürlich ein unschlagbares Anschauungsobjekt, das ein Verweben von architektonischen Interessen demonstriert. Andererseits lassen sie sich aber auch im akademischen Feld – zum einen etwa über die forschungsgeleitete Lehre und zum anderen über interdisziplinäre Zusammenarbeit - verweben. So untersuche ich im dreijährigen Forschungsprojekt „Counterintuitive Building Typologies“, das gerade von der österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft FFG bewilligt wurde,  Innovationspotenziale zur nachhaltigeren Transformation von Gewerbe- und Einzelhandelsstandorten. Mögliche Transformationen werden dabei auch im Rahmen von Entwurfs- und Masterstudios bearbeitet, um durch Raum- und Nutzungsvervielfältigungen in den Innen- und Außenbereichen dieser monofunktionalen Liegenschaften zu aktiveren und attraktiveren Orten höherer Erlebnisdichte und ökologischer Relevanz zu gelangen, die dann in Folge mit ingenieurwissenschaftlichen Forschungspartnern in Richtung positiverer Energie-, Nutzungs-, und Lebenzyklusbilanzen untersucht werden. Architektonischer Expertise – in und als Entwurfslehre – wird bei diesem Forschungsprojekts mit ingenieurwissenschaftlicher Expertise verknüpft und in Form einer Publikation veröffentlicht werden. Bei der Entwicklung weiterer Forschungsprojekte zur Peripherie versuche ich architekturtypologische Perspektiven aber auch mit kulturwissenschaftlichen, künstlerischen und architekturtheoretischen Fragestellungen über Ausstellungs-, Diskussions- und Publikationsformate zu verknüpfen. Daran arbeite ich momentan im Austausch mit mehreren internationalen Kollegen und wurde für nächstes Jahr auch ans Architektur- und Städtebaudepartement DAStU des Mailänder Politecnicos eingeladen (Abb. 18).  


18| Bernhard Ogriseks Masterarbeit ‚Das Infra-Gewöhnliche.  Alltagsfragmente des Grazer Umlands‘, TU Graz 2022. 


ARCHITEKT ANDREAS LECHNER
Attemsgasse 11
8010 Graz



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